Bauernfamilie Frie in den 1950ern, ihre Welt ist verschwunden.

„Es war kein trauriger Abschied“

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Über den „stil­len Abschied vom bäu­er­li­chen Leben“ in den 1950er- und 1960er-Jah­ren ein Buch ver­fasst hat Ewald Frie. Und dafür gleich mal den „Deut­schen Sach­buch­preis 2023“ erhal­ten. Ein Gespräch mit ihm über die Umwäl­zun­gen, den laut­lo­sen Unter­gang einer Welt und die Trei­ber für Ver­än­de­run­gen.

Ihr Buch „Ein Hof und elf Geschwis­ter“ ist seit Wochen in der „Spiegel“-Beststellerliste. Es wur­de vom Deut­schen Buch­han­del aus­ge­zeich­net. Über­rascht Sie der Erfolg? Frie: Ja, sehr! Ich fand die Gesprä­che mit mei­nen Geschwis­tern beim Kaf­fee­trin­ken wäh­rend unse­rer weih­nacht­li­chen Tref­fen immer hoch­in­ter­es­sant und inhalts­reich. Dabei ist dann die Idee für das Buch ent­stan­den. Aber ich hät­te nicht gedacht, dass es ein sol­ches Echo aus­lö­sen könn­te.

Was glau­ben Sie, war­um ist das so? Eine Erklä­rung ist, dass vie­le Men­schen eine Nähe zur Land­wirt­schaft haben, ent­we­der weil sie fami­liä­re Bezie­hun­gen haben oder ander­wei­tig mit der Land­wirt­schaft in Berüh­rung gekom­men sind. 1950 arbei­te­ten noch 25 Pro­zent der Erwerbs­tä­ti­gen in der Agrar- und Forst­wirt­schaft. Da sind die Satt­ler und Schmie­de und ande­re Land­hand­wer­ker noch gar nicht dabei. Dann gibt es die Leu­te im Dorf, die zwar nicht in der oder für die Land­wirt­schaft gear­bei­tet haben, aber trotz­dem unmit­tel­bar mit Land­wirt­schaft in Berüh­rung gekom­men sind. Es gibt also eine gro­ße Zahl von Men­schen, die ent­we­der in unse­rer Gene­ra­ti­on, der davor lie­gen­den oder auch in der Gene­ra­ti­on nach uns die Erfah­rung des Abschieds vom Hof gemacht haben oder machen. In der Geschichts­wis­sen­schaft fin­den die­se Men­schen kei­ne rech­ten Anknüp­fungs­punk­te für ihre Erfah­run­gen. Offen­bar ist die Mischung zwi­schen geschichts­wis­sen­schaft­li­cher Her­an­ge­hens­wei­se an das The­ma und per­sön­li­chen Schil­de­run­gen für vie­le attrak­tiv.

Ihr Buch hat nichts von Agrar­ro­man­tik. Wie schwer war das ange­sichts der per­sön­li­chen Schil­de­run­gen? Mir war es von Beginn an wich­tig, dass es nicht um Roman­tik gehen soll­te und dar­um, wie schön und hei­me­lig oder anders her­um, wie schreck­lich es damals war. Statt­des­sen woll­te ich die sozia­len Kon­stel­la­tio­nen aus ihrer Zeit her­aus ver­ste­hen. Daher der Mix aus Inter­views, agrar­so­zio­lo­gi­scher Beob­ach­tung, dem Land­wirt­schaft­li­chen Wochen­blatt und ein biss­chen Geschichts­wis­sen­schaft.

Ers­te Maschi­nen zogen über die Fel­der. Mit dem Trak­tor und Mäh­dre­scher wur­de alles schnel­ler.

Was hat Sie bewo­gen, das The­ma Land­wirt­schaft in den 1950er- und 1960er-Jah­ren auf­zu­grei­fen? Zum einen kam das aus der fami­liä­ren Betrof­fen­heit her­aus, also sich sel­ber zu erklä­ren, wo man her­kommt. Es war im Übri­gen sehr reiz­voll, die wis­sen­schaft­li­chen Fähig­kei­ten aus 30-jäh­ri­ger For­schungs­ar­beit mal auf mich selbst anzu­wen­den. Zum ande­ren hat­te ich den Ein­druck, dass die 1950er- und 1960er-Jah­re in der Sozio­lo­gie oft als die hei­le Welt erschei­nen. Das passt aber nicht zu dem, was ich beim Kaf­fee­trin­ken von mei­nen Geschwis­tern erzählt bekom­men habe. Ich dach­te, es wäre inter­es­sant, die­se Jah­re in Bewe­gung zu brin­gen.

Was mei­nen Sie? Men­schen nei­gen dazu, den Zeit­punkt ihrer Kind­heit als Still­stand zu betrach­ten, wenn sie von ihrem Leben erzäh­len. Wir ver­ste­hen den Anfang unse­res Lebens als ruhen­den Punkt. Wenn wir dann über unse­re Schul­zeit nach­den­ken, gerät die Welt in Bewe­gung. Wenn ich aber uns elf Geschwis­ter neh­me und die­se ruhen­den Punk­te neben­ein­an­der­set­ze, stel­le ich fest, dass es sie gar nicht gab. Es war stän­dig Bewe­gung. Damit kann ich auf gutem empi­ri­schen Grund eine Bewe­gungs­ge­schich­te erzäh­len und gleich­zei­tig vie­len Men­schen eine Mög­lich­keit geben, ihr Leben anzu­do­cken. Sie kön­nen sagen, dass sie unge­fähr so waren wie der Bru­der oder die Schwes­ter von mir, nur dass der Trak­tor erst fünf Jah­re spä­ter kam oder Ähn­li­ches. Jeder kann sei­ne eige­ne Geschich­te in die­sem Rah­men zusam­men­bau­en. Das war mir vor­her nicht klar.

Sie beschrei­ben den Hof Ihrer Fami­lie im Müns­ter­land. War­um erken­nen Men­schen, die aus ganz ande­ren Fami­li­en und Gegen­den kom­men, in Ihrem Buch so viel wie­der? Wenn ich die Mikroebe­ne genau anschaue, bis hin zur Funk­tio­na­li­tät des Mist­streu­ers, wie es an einer Stel­le vor­kommt, schaf­fe ich für ande­re Men­schen die Mög­lich­keit, sich sel­ber zu ver­or­ten. Wenn ich einen Sach­ver­halt auf unse­rem Hof beschrei­be und gleich­zei­tig, das ist mein Geschäft als His­to­ri­ker, ver­all­ge­mei­ne­rungs­fä­hi­ge Begrif­fe und Struk­tu­ren dar­an hän­ge, bie­te ich dem Wein­bau­ern an der Mosel, bei dem die Mecha­ni­sie­rung wahr­schein­lich erst in den 1980er- oder 1990er-Jah­ren ein­setz­te, die Mög­lich­keit, sei­ne Erfah­run­gen in Ähn­lich­keit und Abstand dazu zu beschrei­ben.

In dem Zeit­raum, mit dem Sie sich befas­sen, sind Mil­lio­nen Men­schen aus der Land­wirt­schaft aus­ge­schie­den, hun­dert­tau­sen­de Betrie­be haben dicht gemacht. War­um war das ein „stil­ler Abschied“? Mich haben die­se Fra­gen sehr beschäf­tigt, war­um ist die­se Welt ver­schwun­den und war­um ist sie so laut­los ver­schwun­den, obwohl es unend­lich vie­le Men­schen getrof­fen hat. Wo sind die­se Men­schen und war­um haben die kei­ne Revo­lu­ti­on vom Zaun gebro­chen? Das ist schon bemer­kens­wert.

Wor­an liegt das? Ein Grund ist, dass Ver­lust und Schei­tern oft indi­vi­dua­li­siert wer­den. Die Men­schen fra­gen sich, was sie selbst falsch gemacht haben, dass ihr Bau­ern­hof, der jahr­hun­der­te­lang funk­tio­niert hat, nun auf­ge­ge­ben wird. Eine Rol­le spielt, dass vie­le die­ser Ver­än­de­run­gen auf den Höfen beim Gene­ra­ti­ons­um­bruch erfol­gen. Die­ser wur­de seit den 1950er-Jah­ren abge­fe­dert durch den Sozi­al­staat auf der einen und dem Wirt­schafts­wun­der mit dem Ange­bot an attrak­ti­ven Arbeits­plät­zen für die nächs­te Gene­ra­ti­on auf der ande­ren Sei­te. Wenn der Hof auf der Kan­te ist, wird man sich also gut über­le­gen, ob man sich das noch antut oder lie­ber die Mög­lich­kei­ten nutzt, die sich woan­ders bie­ten.

Ist es dann auch gerecht­fer­tigt, von „Höfester­ben“ zu spre­chen? Zumin­dest spielt sich die sozia­le Dra­ma­tik, die man in dem Höfester­ben zu sehen meint, auf der indi­vi­du­el­len Ebe­ne in der Regel gar nicht so ab, auch wenn es immer Ein­zel­fäl­le gibt, in denen es anders ist.

Führt der Begriff „Höfester­ben“ also in die Irre? Ich fin­de, man kann den Begriff ver­wen­den, wenn von vorn­her­ein deut­lich ist, dass er nur einen Teil einer Ent­wick­lung beschreibt. Nie­mand wird bestrei­ten wol­len, dass es Höfe mal gab, die inzwi­schen nicht mehr da sind. Es hat aber in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten eine wirk­lich grund­le­gen­de Ver­än­de­rung gegen­über der Agrar­struk­tur gege­ben, wie es sie seit dem 14. oder 15. Jahr­hun­dert gege­ben hat und deren Ent­wick­lung bis ins 19. und 20. Jahr­hun­dert hin­ein in West­deutsch­land gemäch­lich ver­lau­fen ist, bis sie sich nach dem Zwei­ten Welt­krieg rapi­de beschleu­nigt hat. Aller­dings ist das eben eine Ver­än­de­rung, die sozi­al und öko­no­misch abge­fe­dert wird, sodass vie­le Men­schen sie als per­sön­li­chen Gewinn ver­ste­hen kön­nen.

Sie schrei­ben vom Abschied. Was ist in den 1950er- und 1960er-Jah­ren ver­lo­ren gegan­gen? Ganz grund­sätz­lich die Mög­lich­keit von Bau­ern, Bäue­rin­nen und deren Kin­dern ein Leben in einem eige­nen Sozi­al­be­reich zu füh­ren, sich also nur mit Bäue­rin­nen und Bau­ern zu umge­ben, ihre Kin­der in einer bäu­er­li­chen Umge­bung zur Schu­le gehen zu las­sen und in der Land­ju­gend zu sein. Die­sen sozia­len Kos­mos, der mit dem Land­han­del, dem Pas­tor, dem Tier­arzt und dem Tier­zucht­in­spek­tor eini­ge Außen­punk­te hat­te, aber im Wesent­li­chen unter sich funk­tio­nier­te, gibt es so nicht mehr. Es sind fer­ner manu­el­le Tech­ni­ken ver­lo­ren gegan­gen, wie das Besen­bin­den bei mei­nem Vater. In wei­ten Tei­len Deutsch­lands ist Sprach­kom­pe­tenz ver­lo­ren gegan­gen. Mein Vater sprach Platt­deutsch und konn­te eini­ger­ma­ßen Hoch­deutsch. Ich kann gut Hoch­deutsch, aber so gut wie gar kein Platt­deutsch mehr. Auf der indi­vi­du­el­len Ebe­ne wie­gen die Ver­lus­te aller­dings weni­ger als die Gewin­ne.

Als Erd­äp­fel­ern­te noch Hand­ar­beit war. Der Anse­hens­ver­lust des Berufs­stan­des kam schlei­chend.

Was ist mit bäu­er­li­chen Wer­ten, die es zu erhal­ten gilt. Gibt es die über­haupt? Neben Spar­sam­keit, Pflicht­be­wusst­sein und so wei­ter gibt es auch spe­zi­ell bäu­er­li­che und bür­ger­li­che Wer­te. Das sind Vor­stel­lun­gen vom Guten und Rich­ti­gen, die aus der all­täg­li­chen Erfah­rung, der Arbeit etwa, erwach­sen und als sol­che ihren Sinn haben. Es ist gut, dass sie her­aus­ge­ar­bei­tet und bewahrt wer­den. Aber nichts davon hat einen Ewig­keits­wert, son­dern ver­än­dert sich in dem Maße, wie sich die Arbeits­er­fah­run­gen ver­än­dern. Zu behaup­ten, es gebe so etwas wie ewig glei­che bäu­er­li­che Wer­te, erscheint mir weder gerecht­fer­tigt noch sinn­voll.

Was waren vor 60, 70 Jah­ren die Trei­ber für die Ver­än­de­run­gen? Ein wesent­li­cher Trei­ber ist die tech­no­lo­gi­sche Ver­än­de­rung seit den 1950er-Jah­ren mit der Mecha­ni­sie­rung, dem Trak­tor und den Land­ma­schi­nen, die dann sehr schnell bes­ser und leis­tungs­fä­hi­ger gewor­den sind. Dann gibt es eine Agrar­wis­sen­schaft, die bestimm­te Wege als öko­no­misch sinn­voll iden­ti­fi­ziert und vor­zeich­net, etwa den pro­duk­ti­ven Ein-Mann-Betrieb, der auf Pro­duk­ti­ons­mit­tel wie Mine­ral­dün­ger und Pflan­zen­schutz setzt. Und es gibt eine Agrar­po­li­tik, die bestimm­te For­men von Land­wirt­schaft will und dafür Anrei­ze setzt.

Das klingt so, als sei­en die Bau­ern die Getrie­be­nen… Nein, das lässt sich so nicht sagen. Die Bau­ern sind nicht ein­fach nur Opfer. Viel­mehr ent­schei­den sie sich für einen bestimm­ten Weg, weil er ihnen Vor­tei­le bie­tet. Oft fin­den gera­de die Jun­gen inter­es­sant, was an Neu­em gebo­ten wird. Ich brin­ge in dem Buch das Bei­spiel der künst­li­chen Besa­mung, die gemein­sam mit der Zucht­wert­schät­zung für Bul­len eine völ­lig neue Grund­la­ge für die Rin­der­zucht bie­tet. Das sieht zunächst so aus, als sei bäu­er­li­ches Wis­sen von wis­sen­schaft­li­chem Wis­sen abge­löst und als sei­en die Bau­ern um ihre Kom­pe­tenz gebracht wor­den. Dem Land­wirt­schaft­li­chen Wochen­blatt aus die­ser Zeit ist aber zu ent­neh­men, dass eine jün­ge­re Gene­ra­ti­on von Bau­ern selbst sagt, sie set­zen einen Bul­len erst ein, wenn sie die maß­geb­li­chen mathe­ma­tisch ermit­tel­ten Daten zur Ver­er­bung haben. Die sind für sie viel wich­ti­ger als die Ästhe­tik der Tie­re, die bei­spiel­wei­se für mei­nen Vater aus­schlag­ge­bend war. Das war also eine von außen ange­bo­te­ne, aber eben nicht auf­ge­zwun­ge­ne Ent­wick­lung. Sie wur­de von der jun­gen Gene­ra­ti­on beför­dert, weil sie grö­ße­re Chan­cen für sich dar­in sah.

Ist die Poli­tik in die­ser Zeit eher Trei­ber oder Brem­ser des Wan­dels? Bei­des! Die dama­li­ge Euro­päi­sche Wirt­schafts­ge­mein­schaft EWG, mitt­ler­wei­le EU, macht Plä­ne und Vor­ga­ben, die Mit­glied­staa­ten sind eher zurück­hal­tend in der Umset­zung, weil ins­be­son­de­re die kon­ser­va­ti­ven Par­tei­en anders als die EU auf Bau­ern Rück­sicht neh­men müs­sen, die in die­ser Zeit ein rele­van­tes Wäh­ler­kli­en­tel dar­stel­len.

Wie ist der Über­gang auf Ihrem Hof gelau­fen? In den Inter­views wird deut­lich, dass der Über­ga­be 1972 an mei­nen ältes­ten Bru­der inten­si­ve Dis­kus­sio­nen vor­an­ge­gan­gen sind. Wie ist es mit den vie­len noch zu Hau­se leben­den Kin­dern und dem Alten­teil­er­haus? Wie vie­le Res­sour­cen braucht der Hof sel­ber? Dass die Hof­über­ga­be Vor­aus­set­zung für den Bezug von Alters­geld war, hat die Ent­schei­dung zum Gene­ra­ti­ons­wech­sel nicht nur bei uns geför­dert. Mein Bru­der hat dann von Milch­kü­hen auf Fer­kel­pro­duk­ti­on und Mast­schwei­ne umge­stellt und damit ein völ­lig ande­res Kon­zept ver­folgt als mein Vater. Bei uns hat es einen har­ten Cut gege­ben.

Ihr Vater hat das ohne Mur­ren akzep­tiert? Er hat akzep­tiert, dass die Ent­schei­dun­gen nicht mehr von ihm getrof­fen wur­den. Wir jün­ge­ren Kin­der waren beein­druckt, wie schnell der Abschied von den Kühen erfolgt ist. Die älte­ren Geschwis­ter haben erkannt, dass das Modell mei­nes Vaters seit Mit­te der 1960er-Jah­re nicht mehr zukunfts­fä­hig war.

Zur Per­son: Prof. Ewald Frie ist His­to­ri­ker und Autor des Buches „Ein Hof und elf Geschwis­ter“.

Wie war Ihre Mut­ter in betrieb­li­che Ent­schei­dun­gen ein­ge­bun­den? Mei­ne Eltern haben ihre Ent­schei­dungs­be­rei­che getrennt. Mein Vater war zustän­dig für alles, was den Hof angeht, mei­ne Mut­ter für alles, was die Kin­der, den Haus­halt und die Kir­che betraf. Die Macht­be­zie­hun­gen im Hin­blick auf das Geld haben sich in der Fami­lie mehr­fach ver­scho­ben. In den 1950ern gab es noch eine Kas­se, die aus Eier- und But­ter­ver­käu­fen gespeist wur­de. Die war in der Hand der Bäue­rin. Die­se Kas­se ver­schwand irgend­wann in den 60er-Jah­ren, weil die Eier nun von Lege­hen­nen­be­trie­ben kamen und in den Läden ange­bo­ten wur­den und die Milch an die Mol­ke­rei gelie­fert wur­de. Damit war die­se Kas­se aus­ge­trock­net.

Sie schrei­ben an einer Stel­le, dass die Zukunft für die Söh­ne auf dem Lan­de gut war, für die Töch­ter nicht. Wor­an machen Sie das fest? Eine der Stan­dard­fra­gen, die ich mei­nen Geschwis­tern gestellt habe, war: „Woll­test du Bau­er oder Bäue­rin wer­den?“ Mei­ne Schwes­tern ant­wor­ten sofort, ohne auch nur nach­zu­den­ken, und mit gro­ßem Nach­druck „Auf kei­nen Fall!“. Jede zwei­te Toch­ter eines Bau­ern sag­te damals „auf kei­nen Fall“.

Was ist die Ursa­che? Die Mäd­chen erle­ben die Arbeits­be­las­tung der Frau­en am Hof und wis­sen, dass es außer­halb der Land­wirt­schaft Fei­er­abend, Ver­gnü­gun­gen und Mög­lich­kei­ten gibt, sel­ber zu ent­schei­den, wofür man sein Geld aus­gibt.

Das spiel­te für Ihre Brü­der kei­ne Rol­le? Zumin­dest kei­ne ent­schei­den­de. Zwei woll­ten den Hof, der Ältes­te, hat ihn bekom­men, der Drit­te hat auch eine land­wirt­schaft­li­che Aus­bil­dung absol­viert, aber am Ende etwas ande­res gemacht. Die ande­ren haben die Arbeit auf dem Hof nicht nur als Belas­tung emp­fun­den, wuss­ten aber, dass sie am Ende nicht da lan­den wer­den, weil ja nur einer über­neh­men konn­te. Wenn ich ein jün­ge­rer Bru­der bin, dann weiß ich, dass ich nicht blei­ben kann und muss mich umschau­en. Wenn ich eine Toch­ter bin, muss ich ent­schei­den, ob ich einen Bau­ern hei­ra­ten will, wenn es einen gibt.

„Arbeit ist immer“, schrei­ben Sie an einer Stel­le. War es das, was belas­tet, weni­ger die gele­gent­lich anstren­gen­de Arbeit? Ja! Stän­dig beschäf­tigt zu sein und immer Druck zu spü­ren, etwas machen zu müs­sen, und kaum Frei­zeit-akti­vi­tä­ten nach­ge­hen zu kön­nen, belas­tet. Die Kehr­sei­te ist, man hat früh das Gefühl, selbst­stän­dig auf dem Hof etwas zu tun und zum Erfolg des Betrie­bes bei­zu­tra­gen. Inso­fern ist die Arbeit auf dem Hof auch attrak­tiv, weil sie Selbst­stän­dig­keit för­dert.

„Die Dörf­ler gin­gen in den Sport­ver­ein, Bau­ern­söh­ne in den Rei­ter­ver­ein“, heißt es in Ihrem Buch. Wie lan­ge hat die­ser Stolz ange­hal­ten? Die­ser Stolz prägt die Inter­views der ältes­ten vier Geschwis­ter, die zwi­schen 1944 und 1950 gebo­ren sind. Ihre Hal­tung war ein­deu­tig: Wir sind Bau­ern­kin­der und mit denen im Dorf haben wir nichts zu tun. Bis Anfang der 1960er-Jah­re ist die sozia­le Dif­fe­ren­zie­rung über den Rei­ter­ver­ein über­haupt kein Pro­blem. Die Ver­ei­ne sind im Prin­zip für alle offen, man muss nur Pfer­de haben. Das reicht völ­lig, um im Rei­ter­ver­ein unter sich zu blei­ben. Die­se Dif­fe­ren­zie­rung funk­tio­niert in den 60ern nicht mehr, weil Trak­to­ren die Pfer­de erset­zen. Auf ein­mal muss man ein Pferd nur für die­sen Zweck hal­ten, um im Rei­ter­ver­ein zu sein. Damit kom­men immer mehr Leu­te in den Ver­ein, die kei­nen Bau­ern­hof haben. In der Fol­ge kip­pen die Rei­ter­ver­ei­ne und wer­den zu ganz ande­ren Ein­rich­tun­gen, als sie in den 1950er-Jah­ren gewe­sen sind. Gleich­zei­tig ver­än­dern sich die Sport­ver­ei­ne, die zuvor vor allem von Ange­hö­ri­gen unte­rer Schich­ten genutzt wer­den. Sie wer­den nun auch für Bau­ern­kin­der inter­es­sant. Gesell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen und die Mecha­ni­sie­rung der Land­wirt­schaft füh­ren dazu, dass sich zwei Insti­tu­tio­nen, Rei­ter­ver­ein und Sport­ver­ein, tief­grei­fend ver­än­dern.

Dem Bau­ern­stolz folgt irgend­wann Bau­ern­scham. Deut­lich wird das an den Schil­de­run­gen der Schwes­tern, dass in der Schu­le Kin­der nach Stall rochen. Geht das ein­her mit einem Anse­hens­ver­lust der Land­wirt­schaft ins­ge­samt? Den Anse­hens­ver­lust kann man in der agrar­so­zio­lo­gi­schen Lite­ra­tur gut nach­zeich­nen. Die­ses Phä­no­men kann man seit den 1950er-Jah­ren beob­ach­ten, wenn auch regio­nal unter­schied­lich. In klein­bäu­er­li­chen Regio­nen wie der Eifel nimmt die Wert­schät­zung der Bau­ern frü­her ab als in Ober­schwa­ben oder West­fa­len, wo wir eine brei­te mit­tel­bäu­er­li­che Schicht haben. Aber auch dort sinkt das Anse­hen der Bau­ern, nur etwas spä­ter. Ver­mut­lich haben in den 50er-Jah­ren nicht nur ein­zel­ne Kin­der in der Schu­le nach Stall gero­chen, son­dern die meis­ten. Das war dann nicht schlimm. Das kippt in dem Maße, wie der Anteil der Bau­ern­kin­der abnimmt. Im Lau­fe der Zeit wer­den gleich­blei­ben­de Phä­no­me­ne anders bewer­tet. Die Kin­der ent­wi­ckeln eine Sen­si­bi­li­tät, die sie vor­her nicht hat­ten. Katha­ri­na, Jahr­gang 1954, zeigt noch Bau­ern­stolz und Bau­ern­scham gleich­zei­tig. Bei den Jün­ge­ren gibt es den Stolz nicht mehr. Da wird laviert und geschaut, wie man durch­kommt.

Bau­er ist in den 1950er-Jah­ren „ein öffent­li­cher Beruf“, wie Sie schrei­ben, dem gro­ßes Ver­trau­en ent­ge­gen­ge­bracht wird. Wächst das Miss­trau­en in dem Maße, wie die Arbeit kom­ple­xer wird? In den 1950er-Jah­ren kön­nen noch vie­le Men­schen land­wirt­schaft­li­che Vor­gän­ge beur­tei­len. Vie­le Leu­te haben prak­ti­sche Erfah­run­gen, die meis­ten haben sel­ber schon ein­mal eine Kuh gemol­ken oder sie wis­sen unge­fähr, wie eine Kuh oder ein Schwein aus­se­hen muss, wenn es ihr oder ihm gut geht. Bau­er ist auch des­halb ein inter­es­san­ter Beruf, weil alle sich stän­dig ver­glei­chen kön­nen. Man schaut, wie der eine sät und was der ande­re ern­tet. Bau­er ist ein Beruf unter Beob­ach­tung. Das gilt heu­te in ande­rer Wei­se. Die meis­ten Tie­re sind in Stäl­len. Men­schen äußern zwar Hypo­the­sen, was hin­ter den Stall­tü­ren pas­siert, besit­zen aber im Grun­de genom­men kei­ne Kennt­nis­se dar­über. Damit wird Bau­er ein Beruf wie vie­le ande­re auch. Spe­zi­fisch für Bau­ern ist aller­dings, dass ihr Tun unmit­tel­bar Fol­gen für die Gemein­schaft haben kann. Das reicht von der Geruchs­be­läs­ti­gung bis zur mög­li­chen Belas­tung des Trink­was­sers. Das führt zu Ver­däch­ti­gun­gen und Hypo­the­sen, weil vie­le Leu­te nicht mehr sehen und dann auch nicht mehr beur­tei­len kön­nen, wie die Bau­ern wirt­schaf­ten und was hin­ter einer mög­li­chen Belas­tung steckt. In den 50ern gab es eine ande­re Sicht­bar­keit und eine ande­re Kom­pe­tenz.

Ihr Vater glaub­te, ein Anrecht auf Respekt zu haben. War die­ser Respekt nicht auch damals schon ein from­mer Wunsch? In den Jahr­zehn­ten davor, Ers­ter Welt­krieg, Zwi­schen­kriegs­zeit, NS-Zeit, haben die Bau­ern in der gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung gestan­den. Im Ers­ten Welt­krieg und nach dem Zwei­ten Welt­krieg ging es um die Fra­ge, wie viel Nah­rungs­mit­tel sie eigent­lich abge­ben und was sie für sich behal­ten. Da ist auch über Bau­ern und bäu­er­li­ches Arbei­ten sowie die Fra­ge dis­ku­tiert wor­den, ob die Bau­ern mit ihren Pro­duk­ten dem Bedürf­nis der Bevöl­ke­rung hin­rei­chend gerecht wer­den. Die bäu­er­li­che Welt war aber noch in sich geschlos­sen, dass sie eine Eigen­lo­gik von Abstand und Respekt­for­de­run­gen ent­wi­ckeln konn­te.

Das ist völ­lig ver­schwun­den. Ja! Schon in den 1980er- und 1990er-Jah­ren funk­tio­niert das nicht mehr, weil die Bau­ern selbst in den Dör­fern nicht mehr mit gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Akzep­tanz rech­nen kön­nen. Das ist in den 1950ern noch anders. Es ist mir wich­tig, dass man die 1950er-Jah­re nicht ein­fach als Tra­di­ti­on sieht, son­dern das ist im Grun­de genom­men die letz­te Blü­te einer Welt, die in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts schon ziem­lich ange­grif­fen wur­de und unter Druck gera­ten ist.

Heu­te steht die Land­wirt­schaft erneut vor tief­grei­fen­den Ver­än­de­run­gen. Trei­ber sind vor allem gesell­schaft­li­che Erwar­tun­gen und For­de­run­gen, nach­hal­ti­ger zu wirt­schaf­ten und die Tie­re anders zu hal­ten. Was rät der His­to­ri­ker mit bäu­er­li­chen Wur­zeln den Bau­ern? Ich bin kein Agrar­be­ra­ter. Das vor­aus­ge­schickt, scheint es mir sinn­voll, mit dem Wan­del und mit den Fra­gen der Öffent­lich­keit umzu­ge­hen und sich nicht dage­gen zu sper­ren, weil das kei­nen Sinn hat. Bau­ern pro­du­zie­ren zu einem gro­ßen Teil öffent­li­che Güter. Natür­lich gehö­ren ihnen die Fel­der. Aber rund­her­um leben Men­schen, und die­se Men­schen haben ein Inter­es­se an Arten­viel­falt, an Grund­was­ser­schutz, an Frei­zeit. Wie es den Tie­ren geht, ist nicht nur Pri­vat­in­ter­es­se der Bau­ern, son­dern ein berech­tig­tes gesell­schaft­li­ches Anlie­gen. Die Bau­ern soll­ten sich die­sen Dis­kus­sio­nen stel­len und ver­su­chen, mit Argu­men­ten für die eige­ne Sache zu wer­ben.

www.chbeck.de

„Ein Hof und elf Geschwis­ter“, Ver­lag C.H. Beck, 191 Sei­ten, 24,50 Euro. ISBN 978–3‑406–79717‑0

Fotos: Ewald Frie, Öster­rei­chi­scher Bau­ern­bund, kuco — stock.adobe.com, Fany Fazii, Ver­lag C.H. Beck/Andrea Wirl

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