Über den „stillen Abschied vom bäuerlichen Leben“ in den 1950er- und 1960er-Jahren ein Buch verfasst hat Ewald Frie. Und dafür gleich mal den „Deutschen Sachbuchpreis 2023“ erhalten. Ein Gespräch mit ihm über die Umwälzungen, den lautlosen Untergang einer Welt und die Treiber für Veränderungen.
Ihr Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ ist seit Wochen in der „Spiegel“-Beststellerliste. Es wurde vom Deutschen Buchhandel ausgezeichnet. Überrascht Sie der Erfolg? Frie: Ja, sehr! Ich fand die Gespräche mit meinen Geschwistern beim Kaffeetrinken während unserer weihnachtlichen Treffen immer hochinteressant und inhaltsreich. Dabei ist dann die Idee für das Buch entstanden. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es ein solches Echo auslösen könnte.
Was glauben Sie, warum ist das so? Eine Erklärung ist, dass viele Menschen eine Nähe zur Landwirtschaft haben, entweder weil sie familiäre Beziehungen haben oder anderweitig mit der Landwirtschaft in Berührung gekommen sind. 1950 arbeiteten noch 25 Prozent der Erwerbstätigen in der Agrar- und Forstwirtschaft. Da sind die Sattler und Schmiede und andere Landhandwerker noch gar nicht dabei. Dann gibt es die Leute im Dorf, die zwar nicht in der oder für die Landwirtschaft gearbeitet haben, aber trotzdem unmittelbar mit Landwirtschaft in Berührung gekommen sind. Es gibt also eine große Zahl von Menschen, die entweder in unserer Generation, der davor liegenden oder auch in der Generation nach uns die Erfahrung des Abschieds vom Hof gemacht haben oder machen. In der Geschichtswissenschaft finden diese Menschen keine rechten Anknüpfungspunkte für ihre Erfahrungen. Offenbar ist die Mischung zwischen geschichtswissenschaftlicher Herangehensweise an das Thema und persönlichen Schilderungen für viele attraktiv.
Ihr Buch hat nichts von Agrarromantik. Wie schwer war das angesichts der persönlichen Schilderungen? Mir war es von Beginn an wichtig, dass es nicht um Romantik gehen sollte und darum, wie schön und heimelig oder anders herum, wie schrecklich es damals war. Stattdessen wollte ich die sozialen Konstellationen aus ihrer Zeit heraus verstehen. Daher der Mix aus Interviews, agrarsoziologischer Beobachtung, dem Landwirtschaftlichen Wochenblatt und ein bisschen Geschichtswissenschaft.
Was hat Sie bewogen, das Thema Landwirtschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren aufzugreifen? Zum einen kam das aus der familiären Betroffenheit heraus, also sich selber zu erklären, wo man herkommt. Es war im Übrigen sehr reizvoll, die wissenschaftlichen Fähigkeiten aus 30-jähriger Forschungsarbeit mal auf mich selbst anzuwenden. Zum anderen hatte ich den Eindruck, dass die 1950er- und 1960er-Jahre in der Soziologie oft als die heile Welt erscheinen. Das passt aber nicht zu dem, was ich beim Kaffeetrinken von meinen Geschwistern erzählt bekommen habe. Ich dachte, es wäre interessant, diese Jahre in Bewegung zu bringen.
Was meinen Sie? Menschen neigen dazu, den Zeitpunkt ihrer Kindheit als Stillstand zu betrachten, wenn sie von ihrem Leben erzählen. Wir verstehen den Anfang unseres Lebens als ruhenden Punkt. Wenn wir dann über unsere Schulzeit nachdenken, gerät die Welt in Bewegung. Wenn ich aber uns elf Geschwister nehme und diese ruhenden Punkte nebeneinandersetze, stelle ich fest, dass es sie gar nicht gab. Es war ständig Bewegung. Damit kann ich auf gutem empirischen Grund eine Bewegungsgeschichte erzählen und gleichzeitig vielen Menschen eine Möglichkeit geben, ihr Leben anzudocken. Sie können sagen, dass sie ungefähr so waren wie der Bruder oder die Schwester von mir, nur dass der Traktor erst fünf Jahre später kam oder Ähnliches. Jeder kann seine eigene Geschichte in diesem Rahmen zusammenbauen. Das war mir vorher nicht klar.
Sie beschreiben den Hof Ihrer Familie im Münsterland. Warum erkennen Menschen, die aus ganz anderen Familien und Gegenden kommen, in Ihrem Buch so viel wieder? Wenn ich die Mikroebene genau anschaue, bis hin zur Funktionalität des Miststreuers, wie es an einer Stelle vorkommt, schaffe ich für andere Menschen die Möglichkeit, sich selber zu verorten. Wenn ich einen Sachverhalt auf unserem Hof beschreibe und gleichzeitig, das ist mein Geschäft als Historiker, verallgemeinerungsfähige Begriffe und Strukturen daran hänge, biete ich dem Weinbauern an der Mosel, bei dem die Mechanisierung wahrscheinlich erst in den 1980er- oder 1990er-Jahren einsetzte, die Möglichkeit, seine Erfahrungen in Ähnlichkeit und Abstand dazu zu beschreiben.
In dem Zeitraum, mit dem Sie sich befassen, sind Millionen Menschen aus der Landwirtschaft ausgeschieden, hunderttausende Betriebe haben dicht gemacht. Warum war das ein „stiller Abschied“? Mich haben diese Fragen sehr beschäftigt, warum ist diese Welt verschwunden und warum ist sie so lautlos verschwunden, obwohl es unendlich viele Menschen getroffen hat. Wo sind diese Menschen und warum haben die keine Revolution vom Zaun gebrochen? Das ist schon bemerkenswert.
Woran liegt das? Ein Grund ist, dass Verlust und Scheitern oft individualisiert werden. Die Menschen fragen sich, was sie selbst falsch gemacht haben, dass ihr Bauernhof, der jahrhundertelang funktioniert hat, nun aufgegeben wird. Eine Rolle spielt, dass viele dieser Veränderungen auf den Höfen beim Generationsumbruch erfolgen. Dieser wurde seit den 1950er-Jahren abgefedert durch den Sozialstaat auf der einen und dem Wirtschaftswunder mit dem Angebot an attraktiven Arbeitsplätzen für die nächste Generation auf der anderen Seite. Wenn der Hof auf der Kante ist, wird man sich also gut überlegen, ob man sich das noch antut oder lieber die Möglichkeiten nutzt, die sich woanders bieten.
Ist es dann auch gerechtfertigt, von „Höfesterben“ zu sprechen? Zumindest spielt sich die soziale Dramatik, die man in dem Höfesterben zu sehen meint, auf der individuellen Ebene in der Regel gar nicht so ab, auch wenn es immer Einzelfälle gibt, in denen es anders ist.
Führt der Begriff „Höfesterben“ also in die Irre? Ich finde, man kann den Begriff verwenden, wenn von vornherein deutlich ist, dass er nur einen Teil einer Entwicklung beschreibt. Niemand wird bestreiten wollen, dass es Höfe mal gab, die inzwischen nicht mehr da sind. Es hat aber in den vergangenen Jahrzehnten eine wirklich grundlegende Veränderung gegenüber der Agrarstruktur gegeben, wie es sie seit dem 14. oder 15. Jahrhundert gegeben hat und deren Entwicklung bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein in Westdeutschland gemächlich verlaufen ist, bis sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg rapide beschleunigt hat. Allerdings ist das eben eine Veränderung, die sozial und ökonomisch abgefedert wird, sodass viele Menschen sie als persönlichen Gewinn verstehen können.
Sie schreiben vom Abschied. Was ist in den 1950er- und 1960er-Jahren verloren gegangen? Ganz grundsätzlich die Möglichkeit von Bauern, Bäuerinnen und deren Kindern ein Leben in einem eigenen Sozialbereich zu führen, sich also nur mit Bäuerinnen und Bauern zu umgeben, ihre Kinder in einer bäuerlichen Umgebung zur Schule gehen zu lassen und in der Landjugend zu sein. Diesen sozialen Kosmos, der mit dem Landhandel, dem Pastor, dem Tierarzt und dem Tierzuchtinspektor einige Außenpunkte hatte, aber im Wesentlichen unter sich funktionierte, gibt es so nicht mehr. Es sind ferner manuelle Techniken verloren gegangen, wie das Besenbinden bei meinem Vater. In weiten Teilen Deutschlands ist Sprachkompetenz verloren gegangen. Mein Vater sprach Plattdeutsch und konnte einigermaßen Hochdeutsch. Ich kann gut Hochdeutsch, aber so gut wie gar kein Plattdeutsch mehr. Auf der individuellen Ebene wiegen die Verluste allerdings weniger als die Gewinne.
Was ist mit bäuerlichen Werten, die es zu erhalten gilt. Gibt es die überhaupt? Neben Sparsamkeit, Pflichtbewusstsein und so weiter gibt es auch speziell bäuerliche und bürgerliche Werte. Das sind Vorstellungen vom Guten und Richtigen, die aus der alltäglichen Erfahrung, der Arbeit etwa, erwachsen und als solche ihren Sinn haben. Es ist gut, dass sie herausgearbeitet und bewahrt werden. Aber nichts davon hat einen Ewigkeitswert, sondern verändert sich in dem Maße, wie sich die Arbeitserfahrungen verändern. Zu behaupten, es gebe so etwas wie ewig gleiche bäuerliche Werte, erscheint mir weder gerechtfertigt noch sinnvoll.
Was waren vor 60, 70 Jahren die Treiber für die Veränderungen? Ein wesentlicher Treiber ist die technologische Veränderung seit den 1950er-Jahren mit der Mechanisierung, dem Traktor und den Landmaschinen, die dann sehr schnell besser und leistungsfähiger geworden sind. Dann gibt es eine Agrarwissenschaft, die bestimmte Wege als ökonomisch sinnvoll identifiziert und vorzeichnet, etwa den produktiven Ein-Mann-Betrieb, der auf Produktionsmittel wie Mineraldünger und Pflanzenschutz setzt. Und es gibt eine Agrarpolitik, die bestimmte Formen von Landwirtschaft will und dafür Anreize setzt.
Das klingt so, als seien die Bauern die Getriebenen… Nein, das lässt sich so nicht sagen. Die Bauern sind nicht einfach nur Opfer. Vielmehr entscheiden sie sich für einen bestimmten Weg, weil er ihnen Vorteile bietet. Oft finden gerade die Jungen interessant, was an Neuem geboten wird. Ich bringe in dem Buch das Beispiel der künstlichen Besamung, die gemeinsam mit der Zuchtwertschätzung für Bullen eine völlig neue Grundlage für die Rinderzucht bietet. Das sieht zunächst so aus, als sei bäuerliches Wissen von wissenschaftlichem Wissen abgelöst und als seien die Bauern um ihre Kompetenz gebracht worden. Dem Landwirtschaftlichen Wochenblatt aus dieser Zeit ist aber zu entnehmen, dass eine jüngere Generation von Bauern selbst sagt, sie setzen einen Bullen erst ein, wenn sie die maßgeblichen mathematisch ermittelten Daten zur Vererbung haben. Die sind für sie viel wichtiger als die Ästhetik der Tiere, die beispielweise für meinen Vater ausschlaggebend war. Das war also eine von außen angebotene, aber eben nicht aufgezwungene Entwicklung. Sie wurde von der jungen Generation befördert, weil sie größere Chancen für sich darin sah.
Ist die Politik in dieser Zeit eher Treiber oder Bremser des Wandels? Beides! Die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG, mittlerweile EU, macht Pläne und Vorgaben, die Mitgliedstaaten sind eher zurückhaltend in der Umsetzung, weil insbesondere die konservativen Parteien anders als die EU auf Bauern Rücksicht nehmen müssen, die in dieser Zeit ein relevantes Wählerklientel darstellen.
Wie ist der Übergang auf Ihrem Hof gelaufen? In den Interviews wird deutlich, dass der Übergabe 1972 an meinen ältesten Bruder intensive Diskussionen vorangegangen sind. Wie ist es mit den vielen noch zu Hause lebenden Kindern und dem Altenteilerhaus? Wie viele Ressourcen braucht der Hof selber? Dass die Hofübergabe Voraussetzung für den Bezug von Altersgeld war, hat die Entscheidung zum Generationswechsel nicht nur bei uns gefördert. Mein Bruder hat dann von Milchkühen auf Ferkelproduktion und Mastschweine umgestellt und damit ein völlig anderes Konzept verfolgt als mein Vater. Bei uns hat es einen harten Cut gegeben.
Ihr Vater hat das ohne Murren akzeptiert? Er hat akzeptiert, dass die Entscheidungen nicht mehr von ihm getroffen wurden. Wir jüngeren Kinder waren beeindruckt, wie schnell der Abschied von den Kühen erfolgt ist. Die älteren Geschwister haben erkannt, dass das Modell meines Vaters seit Mitte der 1960er-Jahre nicht mehr zukunftsfähig war.
Wie war Ihre Mutter in betriebliche Entscheidungen eingebunden? Meine Eltern haben ihre Entscheidungsbereiche getrennt. Mein Vater war zuständig für alles, was den Hof angeht, meine Mutter für alles, was die Kinder, den Haushalt und die Kirche betraf. Die Machtbeziehungen im Hinblick auf das Geld haben sich in der Familie mehrfach verschoben. In den 1950ern gab es noch eine Kasse, die aus Eier- und Butterverkäufen gespeist wurde. Die war in der Hand der Bäuerin. Diese Kasse verschwand irgendwann in den 60er-Jahren, weil die Eier nun von Legehennenbetrieben kamen und in den Läden angeboten wurden und die Milch an die Molkerei geliefert wurde. Damit war diese Kasse ausgetrocknet.
Sie schreiben an einer Stelle, dass die Zukunft für die Söhne auf dem Lande gut war, für die Töchter nicht. Woran machen Sie das fest? Eine der Standardfragen, die ich meinen Geschwistern gestellt habe, war: „Wolltest du Bauer oder Bäuerin werden?“ Meine Schwestern antworten sofort, ohne auch nur nachzudenken, und mit großem Nachdruck „Auf keinen Fall!“. Jede zweite Tochter eines Bauern sagte damals „auf keinen Fall“.
Was ist die Ursache? Die Mädchen erleben die Arbeitsbelastung der Frauen am Hof und wissen, dass es außerhalb der Landwirtschaft Feierabend, Vergnügungen und Möglichkeiten gibt, selber zu entscheiden, wofür man sein Geld ausgibt.
Das spielte für Ihre Brüder keine Rolle? Zumindest keine entscheidende. Zwei wollten den Hof, der Älteste, hat ihn bekommen, der Dritte hat auch eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert, aber am Ende etwas anderes gemacht. Die anderen haben die Arbeit auf dem Hof nicht nur als Belastung empfunden, wussten aber, dass sie am Ende nicht da landen werden, weil ja nur einer übernehmen konnte. Wenn ich ein jüngerer Bruder bin, dann weiß ich, dass ich nicht bleiben kann und muss mich umschauen. Wenn ich eine Tochter bin, muss ich entscheiden, ob ich einen Bauern heiraten will, wenn es einen gibt.
„Arbeit ist immer“, schreiben Sie an einer Stelle. War es das, was belastet, weniger die gelegentlich anstrengende Arbeit? Ja! Ständig beschäftigt zu sein und immer Druck zu spüren, etwas machen zu müssen, und kaum Freizeit-aktivitäten nachgehen zu können, belastet. Die Kehrseite ist, man hat früh das Gefühl, selbstständig auf dem Hof etwas zu tun und zum Erfolg des Betriebes beizutragen. Insofern ist die Arbeit auf dem Hof auch attraktiv, weil sie Selbstständigkeit fördert.
„Die Dörfler gingen in den Sportverein, Bauernsöhne in den Reiterverein“, heißt es in Ihrem Buch. Wie lange hat dieser Stolz angehalten? Dieser Stolz prägt die Interviews der ältesten vier Geschwister, die zwischen 1944 und 1950 geboren sind. Ihre Haltung war eindeutig: Wir sind Bauernkinder und mit denen im Dorf haben wir nichts zu tun. Bis Anfang der 1960er-Jahre ist die soziale Differenzierung über den Reiterverein überhaupt kein Problem. Die Vereine sind im Prinzip für alle offen, man muss nur Pferde haben. Das reicht völlig, um im Reiterverein unter sich zu bleiben. Diese Differenzierung funktioniert in den 60ern nicht mehr, weil Traktoren die Pferde ersetzen. Auf einmal muss man ein Pferd nur für diesen Zweck halten, um im Reiterverein zu sein. Damit kommen immer mehr Leute in den Verein, die keinen Bauernhof haben. In der Folge kippen die Reitervereine und werden zu ganz anderen Einrichtungen, als sie in den 1950er-Jahren gewesen sind. Gleichzeitig verändern sich die Sportvereine, die zuvor vor allem von Angehörigen unterer Schichten genutzt werden. Sie werden nun auch für Bauernkinder interessant. Gesellschaftliche Entwicklungen und die Mechanisierung der Landwirtschaft führen dazu, dass sich zwei Institutionen, Reiterverein und Sportverein, tiefgreifend verändern.
Dem Bauernstolz folgt irgendwann Bauernscham. Deutlich wird das an den Schilderungen der Schwestern, dass in der Schule Kinder nach Stall rochen. Geht das einher mit einem Ansehensverlust der Landwirtschaft insgesamt? Den Ansehensverlust kann man in der agrarsoziologischen Literatur gut nachzeichnen. Dieses Phänomen kann man seit den 1950er-Jahren beobachten, wenn auch regional unterschiedlich. In kleinbäuerlichen Regionen wie der Eifel nimmt die Wertschätzung der Bauern früher ab als in Oberschwaben oder Westfalen, wo wir eine breite mittelbäuerliche Schicht haben. Aber auch dort sinkt das Ansehen der Bauern, nur etwas später. Vermutlich haben in den 50er-Jahren nicht nur einzelne Kinder in der Schule nach Stall gerochen, sondern die meisten. Das war dann nicht schlimm. Das kippt in dem Maße, wie der Anteil der Bauernkinder abnimmt. Im Laufe der Zeit werden gleichbleibende Phänomene anders bewertet. Die Kinder entwickeln eine Sensibilität, die sie vorher nicht hatten. Katharina, Jahrgang 1954, zeigt noch Bauernstolz und Bauernscham gleichzeitig. Bei den Jüngeren gibt es den Stolz nicht mehr. Da wird laviert und geschaut, wie man durchkommt.
Bauer ist in den 1950er-Jahren „ein öffentlicher Beruf“, wie Sie schreiben, dem großes Vertrauen entgegengebracht wird. Wächst das Misstrauen in dem Maße, wie die Arbeit komplexer wird? In den 1950er-Jahren können noch viele Menschen landwirtschaftliche Vorgänge beurteilen. Viele Leute haben praktische Erfahrungen, die meisten haben selber schon einmal eine Kuh gemolken oder sie wissen ungefähr, wie eine Kuh oder ein Schwein aussehen muss, wenn es ihr oder ihm gut geht. Bauer ist auch deshalb ein interessanter Beruf, weil alle sich ständig vergleichen können. Man schaut, wie der eine sät und was der andere erntet. Bauer ist ein Beruf unter Beobachtung. Das gilt heute in anderer Weise. Die meisten Tiere sind in Ställen. Menschen äußern zwar Hypothesen, was hinter den Stalltüren passiert, besitzen aber im Grunde genommen keine Kenntnisse darüber. Damit wird Bauer ein Beruf wie viele andere auch. Spezifisch für Bauern ist allerdings, dass ihr Tun unmittelbar Folgen für die Gemeinschaft haben kann. Das reicht von der Geruchsbelästigung bis zur möglichen Belastung des Trinkwassers. Das führt zu Verdächtigungen und Hypothesen, weil viele Leute nicht mehr sehen und dann auch nicht mehr beurteilen können, wie die Bauern wirtschaften und was hinter einer möglichen Belastung steckt. In den 50ern gab es eine andere Sichtbarkeit und eine andere Kompetenz.
Ihr Vater glaubte, ein Anrecht auf Respekt zu haben. War dieser Respekt nicht auch damals schon ein frommer Wunsch? In den Jahrzehnten davor, Erster Weltkrieg, Zwischenkriegszeit, NS-Zeit, haben die Bauern in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gestanden. Im Ersten Weltkrieg und nach dem Zweiten Weltkrieg ging es um die Frage, wie viel Nahrungsmittel sie eigentlich abgeben und was sie für sich behalten. Da ist auch über Bauern und bäuerliches Arbeiten sowie die Frage diskutiert worden, ob die Bauern mit ihren Produkten dem Bedürfnis der Bevölkerung hinreichend gerecht werden. Die bäuerliche Welt war aber noch in sich geschlossen, dass sie eine Eigenlogik von Abstand und Respektforderungen entwickeln konnte.
Das ist völlig verschwunden. Ja! Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren funktioniert das nicht mehr, weil die Bauern selbst in den Dörfern nicht mehr mit gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz rechnen können. Das ist in den 1950ern noch anders. Es ist mir wichtig, dass man die 1950er-Jahre nicht einfach als Tradition sieht, sondern das ist im Grunde genommen die letzte Blüte einer Welt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon ziemlich angegriffen wurde und unter Druck geraten ist.
Heute steht die Landwirtschaft erneut vor tiefgreifenden Veränderungen. Treiber sind vor allem gesellschaftliche Erwartungen und Forderungen, nachhaltiger zu wirtschaften und die Tiere anders zu halten. Was rät der Historiker mit bäuerlichen Wurzeln den Bauern? Ich bin kein Agrarberater. Das vorausgeschickt, scheint es mir sinnvoll, mit dem Wandel und mit den Fragen der Öffentlichkeit umzugehen und sich nicht dagegen zu sperren, weil das keinen Sinn hat. Bauern produzieren zu einem großen Teil öffentliche Güter. Natürlich gehören ihnen die Felder. Aber rundherum leben Menschen, und diese Menschen haben ein Interesse an Artenvielfalt, an Grundwasserschutz, an Freizeit. Wie es den Tieren geht, ist nicht nur Privatinteresse der Bauern, sondern ein berechtigtes gesellschaftliches Anliegen. Die Bauern sollten sich diesen Diskussionen stellen und versuchen, mit Argumenten für die eigene Sache zu werben.
Fotos: Ewald Frie, Österreichischer Bauernbund, kuco — stock.adobe.com, Fany Fazii, Verlag C.H. Beck/Andrea Wirl